Wie möchte ich leben?, ist eine Frage, die wir uns selten bis gar nicht stellen. Unser Geburtsort, die familiären Strukturen, die Liebe und die Arbeit geben uns einen Rahmen vor, in dem wir uns wie selbstverständlich bewegen. Als wäre es vom Schicksal bestimmt, dabei gibt es dafür keinerlei Beleg. Im Grunde ist es zu jeder Zeit möglich, das eigene gesamte Leben an einen anderen Ort zu verlagern, alles über einen Haufen zu werfen, neu zu starten, woanders (wieder) anzuknüpfen. Und doch fühlt es sich jedes Mal verboten an, die eigene Lebenssituation radikal zu verändern, unkonventionell, ein Schritt, der wohl überlegt, mit guten Argumenten hinterlegt und für alle nachvollziehbar sein sollte. Gerade, wenn man Kinder hat.
Damit wir es bloß nicht bereuen, denn bereuen, das ist unbedingt zu vermeiden.
Seit ich denken kann, möchte ich am Meer leben. Diese Sehnsucht hat ihren Ursprung in einem kleinen Punkt auf der Landkarte, westlich von Rügen: Meine Großeltern pachten schon seit den Sechzigern ein kleines, reetdachgedecktes Haus auf Hiddensee, in dem ich jeden Sommer verbrachte. Wenn man mit nackten Füßen übers Gras rennt, sind es keine fünf Minuten, bis die heißen Fußsohlen im Meer Abkühlung und der Kopf unter Wasser Ruhe finden und die laue Nachmittagstimmung einen umarmt, wenn der Wind sich legt und die Sonne langsam Richtung Horizont zieht um ins Meer zu plumpsen.
Als ich zwölf Jahre alt war, zog meine Mutter mit meinem Bruder und mir allerdings erst weg vom Meer gen Westen nach Köln, eine berufliche Entscheidung. Allein mit zwei Kindern wagte sie einen Neustart, für den Mut, den sie damals aufgebrachte, bewundere ich sie noch heute. Für mich bedeutete es nicht weniger, als meine Heimat Potsdam, einige Kinderfreundschaften und meinen Papa zurückzulassen, um meine Pubertät in den Kreisen von rheinischen Frohnaturen zu verbringen, die mich liebevoll aufnahmen. Mein erster Kuss, erste Urlaube mit Freund:innen ohne Eltern, in Clubs auf den Kölner Ringen reinsneaken, weil nichts die Hybris einer Fünfzehnjährigen schlägt, auch keine Türsteher - wir waren uns sicher, die Welt gehört uns. Auf meinen ersten Liebeskummer folgten Schicksalsschläge, die alles für immer veränderten und auf die ich an anderer Stelle einmal eingehen möchte, für den Verlauf dieser Erzählung sind sie vor allem wichtig, weil sie mein Leben auf den Kopf stellten. Unsicherheit, Traurigkeit, Sinnlosigkeit verdrängten Lebensfreude und Mut und führten mich auf eine neue Schule und zu meiner Therapeutin, die mit Sicherheit nicht weniger getan hat, als mir dabei zu helfen, mein Leben zu retten.
In diesen Jahren rund ums Abitur traf ich viele Menschen, die meinen Weltschmerz teilten. Einige davon waren auch auf unserer Hochzeit dieses Jahr auf Hiddensee - etwas, was wir uns damals wohl kaum selbst geglaubt hätten, als wir rauchend auf den Treppenstufen vorm Subway, einem kleinen Club, direkt an einer Bahnüberführung auf der Aachener saßen. Ob getränkt in Hybris oder durchzogen von Weltschmerz, die Jahre in Köln und die Freundschaften waren stark und intensiv, sie hielten sowohl mein Leid als auch die Freude, sie hielten mich. Der Ruf des Meeres aber lies nicht nach und so entschied ich mich schweren Herzens für ein Studium in Hamburg, denn da, das hatte ich bei vielen Besuchen in der Hansestadt erlebt, roch es schon ein wenig nach Meer, das Wasser durchzog die Stadt und es war nicht allzu weit weg von meinen Freund:innen am Kölner Dom.
In Hamburg anzukommen fühlte sich wie ein dumpfer Aufprall an. Ich flirtete mit einem DJ, verbrachte glückliche Stunden in der Toast Bar, hatte einen Job und begann ein Studium, aber irgendwie vermochte diese Stadt mir keine Leichtigkeit zu geben - oder ich konnte sie nicht greifen. Meine große On/Off-Liebe aus Köln schwirrte mir noch im Kopf herum, der DJ konnte sich auch nicht entscheiden, ich schmiss mich voller Kraft ins Studieren und verliebte mich dann doch in den Vater meines ersten Sohnes. Noch während des zweiten Semesters wurde ich schwanger und gründete mit meiner Abi-Freundin Pola, die es auch nach Hamburg verschlagen hatte, “Kleiderei”, unser erstes eigenes Business. Es folgten sechs Jahre als Co-Geschäftsführer:innen, mit vielen Höhe- und einigen Tiefpunkten (dazu auch an anderer Stelle mehr), begleitet durch die Trennung unserer kleinen Familie und den Einzug in ein neues, eigenes Leben im 50/50-Wechselmodell. Ich zog mit meinem Sohn in eine Wohnung über den Dächern der Stadt mit einem Balkon über einer vierspurigen Straße, wo ich bunte Lichter aufhängte und mich jeden Abend darauf freute, hoch oben auf der roten Bank bei Zigaretten und Wein den wilden Alltag hinter mir zu lassen.
Den Sommer 2019 verbrachte ich mit meinem Sohn wie immer auf Hiddensee und verliebte mich in meinen jetzigen Mann. Sein Name ist Robin und wir werden heiraten, mit diesen Worten kehrte ich braungebrannt mit zerzaustem Haar zurück von der Insel in die große Hansestadt. Die Stadt, die auch nach Jahren der Hingabe und allem, was sie mir zurückgab, nie ganz mein Zuhause geworden war.
Kein Jahr später folgte die weltweite Pandemie und aus dem Wegfall aller sozialen und beruflichen Beziehungen heraus öffnete sich etwas und ich beschloss, all meinen Mut zusammenzunehmen und zu Robin nach Rostock zu ziehen. Mut brauchte ich auch deshalb, weil dies bedeutete, unser 50/50-Wechselmodel aufzugeben. Es ist nicht leicht, dieses neue, von der Woke-Parents-Bewegung, zu der ich mich selbst zählen würde, als Ultimum gesehene Modell zu hinterfragen und festzustellen, dass es im eigenen Lebensweg nicht funktioniert. Weder der Papa noch ich konnten bei unseren neuen Partner:innen sein und für unseren Sohn bedeutete es ein Leben in vier Haushalten. So gerne ich bewiesen hätte, dass es möglich ist, sich die Elternschaft auch nach der Trennung gleichwertig zu teilen, uns ist es nicht gelungen. Ein Eingeständnis, das weh tut, und in dem Versprechen mündete, jedes zweite Wochenende nach Hamburg zu kommen, damit Papa und Sohn sich sehen können und später auch ein Papa-Jahr zu ermöglichen.
Kurz vor Weihnachten zogen wir mit einem Umzugswagen nach Rostock. Es war immer noch Pandemie, die Restriktionen bedeuteten für uns, in Minimalbesetzung unser Leben in Kisten in den dritten Stock zu hieven, in die Wohnung, die wir in den letzten Wochen detailverliebt kernsaniert und damit zu unserem gemacht hatten. Das letzte Stück war die Matratze und ich erinnere mich, wie wir sie einfach nur noch auf dem Geländer hochschoben und hofften, sie würde es bis nach oben schaffen, so erschöpft waren wir.
Ein neues Leben in Rostock begann, wir gewöhnten uns ein und fanden Anschluss. Jeden zweiten Freitag saß ich mit meinem Sohn im Zug nach Hamburg, wir trafen den Papa am Bahnhof und ich fuhr wieder zurück nach Rostock. Sonntags holte ich ihn wieder ab. Der Wechsel vom 50/50-Modell zum Zwei-Wochen-Rhythmus tat uns allen gut, der Papa war nun nicht mehr an den Schulweg gebunden und konnte so zu seiner Freundin, etwas außerhalb von Hamburg ziehen - nach dem großen Umbruch entstand eine neue Stabilität für uns alle. Ich war erleichtert, eine Erleichterung so groß, wie sie nur auf Entscheidungen außerhalb der eigenen Komfortzone folgt.
Im Sommer 2022 kam unser erstes gemeinsames Kind, unsere Tochter Toni, zur Welt, im Mai erwarten wir unser zweites Kind. Wir haben geheiratet, mit Freund:innen aus Potsdam, Köln, Hamburg und Rostock. Wie eine große gemischte Tüte kamen Menschen aus meinen verschiedenen Lebensphasen zusammen, um auf die neue Ära mit uns anzustoßen.
Nach fast drei Jahren stand die Idee des Papa-Jahres im Raum. Als Mama ein Papa-Jahr einzuräumen, ist eine dieser Entscheidungen, die kaum ein Mensch nachvollziehen kann, viele, denen ich es erzählte, rieben sich die Augen und fragen ungläubig, wie ich das denn nur aushalten könnte, mein Kind dann nur an den Wochenenden zu sehen - eine Frage, die ich mir selbst nur bedingt gestellt hatte. Haben wir als Eltern denn ein Recht auf die Anwesenheit unserer Kinder? Sind sie nicht freie Individuen, sollten sie nicht die Herrscher:innen über ihre eigenen Lebenswege sein, ohne Loyalitätskonflikte, ohne das Pflichtgefühl des Vermissens oder die Verantwortung des Vermisstwerdens? Fragen, die ich auf eine lange Liste schreibe, die ich: Was ist eigentlich Familie? nenne - und die mir in letzter Zeit häufiger begegnet.
Für uns würde ein Papa-Jahr bedeuten, dass wir dann wiederum unabhängig von der Schulpflicht wären und die Elternzeit am Meer verbringen könnten, denn arbeiten, das tun wir beide eh größtenteils Remote. Elternzeit am Meer! Die Wiese direkt vor der Tür, das Meer hinter den Dünen, der Wind im Haar, die Sonnenstrahlen auf den Kindernasen - ich hatte es mir in meinen kühnsten Träumen ja kaum ausgemalt. Das könnte jetzt Wirklichkeit werden? Ich freute mich, schmiedete Pläne, wir begannen den Umzug zu planen und das kleine Häuschen, das mittlerweile außer uns kaum ein Familienmitglied nutzte, zu renovieren. Dann kam die Nachricht, dass ein Papa-Jahr doch noch nicht möglich wäre und ich stand wieder vor der großen Frage: Bleiben wir wo wir sind? Oder gehen wir alle zusammen nach Hiddensee?
Es ist mutig zu gehen. Es ist mutig zu bleiben.
Wir entschieden uns zu gehen. Ich rief die Schule vor Ort an, fragte, ob sie einen Platz frei haben, sie sagten ja, einige sogar. Und so beginnen wir erneut, unser Leben in Kisten zu packen.
Es ist ein verrückter Satz, den ich kaum selbst glauben kann, aber dieses Jahr werden wir aus dem Sommerurlaub nicht in die Stadt zurückkehren.
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