Die Diagnose Down-Syndrom unserer Tochter Toni und die damit einhergehende Entwicklungsverzögerung bedeutet vor allem eines: Eine verlängerte Kindheit für Toni. Mein älterer Sohn Dante, der, damals noch in Hamburg, viel mit mir alleine groß geworden ist, erscheint uns oft schon so reif und selbstständig, dass wir kaum glauben können, dass sein Leben unter unserem Dach gerade erst die Halbzeit erreicht hat. Mit dem Wissen, dass Toni aller Voraussicht nach (konkrete Aussagen über Zeitpunkte und Entwicklungsschritte können wie bei jedem anderen Kind nicht gemacht werden) nicht mit sechs Jahren mit uns, ihren Eltern, oder eben ihrem großen Bruder Monopoly spielen wird, war uns schnell klar, dass ein kleines Geschwisterchen ein Gewinn für sie wäre. Der Wunsch nach einem Haus voller Kinder war bei mir schon länger da, auch wenn ich die Zweisamkeit mit meinem Erstgeborenen sehr genossen habe. Kurzum entschieden wir letzten Sommer, einige Wochen nach Tonis erstem Geburtstag, noch einmal schwanger zu werden. Eine Freundin sagte kürzlich zu uns, dass sie uns sehr mutig fände, weil wir dies beschlossen hatten, obwohl Toni weder laufen noch sprechen kann. Ich muss zugeben, wir haben da nicht wirklich drüber nachgedacht, vielleicht auch, weil klar war, dass es unklar ist, wann sie beides erlernen wird (wobei sie bereits erste Schritte macht und sich dann fröhlich glucksend auf den Boden wirft).
Dass dies tatsächlich eine Herausforderung ist, merke ich vor allem dann, wenn wir alleine sind. So trug es sich zu, als ich hochschwanger war (darüber habe ich hier geschrieben) und jetzt erneut bei meinem Versuch, zwei Wochen nach der Geburt mit beiden Kindern alleine im Wochenbett auf Hiddensee zu bleiben. Nach einigen Tagen mit Besuch von meiner Mama und Dante, die unter der Woche gemeinsam in Rostock die Schultage absolvierten, reisten am Dienstag nach Pfingsten alle ab und auf einmal war es ganz still im Haus.
Jedes Wochenbett ist anders, so wie jede Geburt anders ist. Während ich nach Tonis Geburt sehr schnell wieder auf den Beinen war, dauert es dieses Mal länger und ich versuche so viel Zeit wie möglich im Liegen zu verbringen und meinen Körper zu entlasten. Meine Hebamme, die zum Glück selbst ein paar Tage auf Hiddensee über die Feiertage verbrachte und uns so hier im Wochenbett besuchen konnte, predigt: Zwei Wochen im Bett liegen, zwei Wochen neben dem Bett stehen, zwei Wochen ums Bett gehen. Macht summa summarum sechs Wochen, in denen eine frischgebackene Mutter nicht wirklich ihrem Alltag nachgehen kann.
Eine Geburt ist eine Heldinnentat.
Ich sehe das in der Theorie völlig ein, würde für jede andere Mutter das Wochenbett erstreiten und darauf bestehen, dass eine Geburt eine Heldinnentat ist und danach erstmal wochenlang nichts anderes zu tun ist, als die Frucht dieser Heldinnentat, das Baby, kennenzulernen, zu genießen und gemeinsam zu heilen. Doch für mich selbst (und da bin ich keine Ausnahme) sieht es anders aus: Es fällt mir schwer die Tage im Liegen zu verbringen, meinen Mann oder meine Mutter für mich Kochen, Putzen oder Waschen zu lassen und vor allem nicht meiner kleinen Tochter auf die Rutsche zu helfen oder sie hochzuheben, wenn sie ihre kleinen Ärmchen ausstreckt.
Nun ist es aber so wie es ist und ich versuche mir selbst in Liebe zuzusprechen, dass es bald wieder so sein wird, ich dann nicht mehr daran denken werde und im Gegenteil, später bereuen würde, wenn ich meinem Körper jetzt nicht die nötige Ruhe gönne. Ich höre mir dabei mal mehr mal weniger zu, aber ich versuche es. Überschätzt habe ich mich auf jeden Fall damit, alleine mit den beiden Kleinen zu bleiben: Nach dem ersten Abend, der gut geklappt hat und der ersten Nacht, die natürlich sehr unruhig war, weil Toni jedes Mal mit wach wurde wenn Leander trinken wollte, beginnt der Tag um kurz nach fünf. Wir frühstücken warmen Grießbrei mit Kirschmarmelade um sechs Uhr morgens und nach einer Stunde im Kinderzimmer bauen wir unser Lager auf der Wiese auf. Tatsächlich habe ich das Gefühl, dass Kinder draußen zu beschäftigen immer dankbarer ist, als drinnen. So klettert Toni kurzum in ihren Fahrradanhänger und beobachtet die Birke, wie sie ihre Äste dem Wind hingibt und die Blätter zwirbeln. Nach dem Essen und einem Mittagsschlaf werde ich ihr Planschbecken aufbauen und wir werden baden, aber noch genieße ich es, dass auch sie die Ruhe genießt.
Mir selbst fliegt eine Erinnerung zu: Es mag vor gut 15 Jahren gewesen sein, als ich mit meinem Bruder am Strand entlang lief und eine Erkenntnis fürs Leben fasste. Wir kannten diesen Strand in- und und auswendig (jetzt gerade ist er, etwa zweihundert Meter weit weg, aber für mich noch unerreichbar) und als ich mich, mit den Füßen im Wasser erst nach links zu meinem Bruder umdrehte und anschließend hinter mich schaute, stellte ich fest, dass wir seit dem letzten Ort - markiert durch viele Strandkörbe - die nun nur noch kleine, bunte Punkte im Sand waren, kein Wort mehr gewechselt hatten.
Ohne es zu merken, sind wir schweigend und selig nebeneinander her gelaufen, ich im kalten Nass, er im weichen Sand. Ich blinzelte in die Sonne, drehte mich zurück und lief weiter, schaute auf meine Füße, die gefühlt von Sekunde zu Sekunde mehr Farbe bekamen und in meinem Kopf schloss sich eine Verbindung: Liebe ist für mich, zusammen schweigen zu können.
Liebe ist für mich, zusammen schweigen zu können.
Was für eine Erkenntnis! Was für eine Leichtigkeit, die sich in mir ausbreitete. Dass es sich um die Königsdisziplin der Liebe handelt, war mir damals noch nicht klar.
Als ich im Jahr 2013 meinen ersten Sohn zur Welt brachte, schwor ich mir, ihm diese bedingungslose Liebe jede Sekunde zu geben, ohne mich dabei um ihn zu drehen. Ihm beizubringen, dass es okay ist, wenn ich neben ihm lese und er spielt. Dass das manchmal ausreicht. Dass wir ein Team sind, auch wenn er die Woche bei seinen Großeltern verbringt. Ich es nicht schlimm finde, wenn er dann keine Zeit hat mit mir zu telefonieren (hat er nämlich nicht), ich aber trotzdem weiß, dass er mich liebt und ich ihn.
Bis heute, nach der Geburt von Leander, meinem dritten Kind, merke ich, wie verdammt viel Urvertrauen dazu gehört. Wie viel Sicherheit dieser Freiheit zugrunde liegt und es alles andere als leicht ist.
Erstaunlicherweise äußert sich diese Erkenntnis in unserem Familienalltag auf überraschende Art und zwar ist Toni dann am meisten bei sich, wenn Robin und ich zusammen sind und über irgendetwas sprechen. Da geht sie in sich selbst auf, spielt versunken vor sich hin, gefühlt stundenlang. Sie fühlt sich sicher. Wenn nur eine(r) von uns da ist, bezieht sie ich viel mehr auf uns. So ist es auch heute, als wir wieder reingehen, weil draußen starker Wind aufzieht, sie will auf meinen Arm und ich darf sie nicht heben.
Am Ende des Tages erkenne ich, es ist noch zu viel für mich, ich bitte Robin früher zurück zu kommen und merke wieder, wie schwer es ist, sich selbst einzugestehen, dass man etwas nicht schafft, gerade als Mutter (dazu schreibe ich nächste Woche mehr, denn das Thema verdient einen ganzen, eigenen Beitrag).
Eine weitere Erkenntnis, die ich schon vorher gewonnen, aber in diesem Wochenbett zum ersten Mal selbst angewandt habe ist: Lebe mit deinem Kind von Anfang an so, wie du leben willst. Heißt: Wenn dein Baby im Kinderwagen liegen soll, dann am besten von Anfang an. Ich bin eigentlich eine Trage-Mama, habe Toni sechs Monate getragen, bevor sie das erste Mal in ihrem Kinderwagen saß. Dante ebenso. Vom Kinderwagen wurde dann auch so schnell wie möglich zum Fahrradsitz auf dem Gepäckträger umgesattelt. Nun für Leander als drittes Kind gibt es keine andere Möglichkeit, als ihn an den Kinderwagen zu gewöhnen, der nun ein Doppelkinderwagen ist, oben Leander, unten Toni. Und was soll ich sagen? Er macht es fantastisch! Er bleibt drin liegen, er weint erst wenn er Hunger hat, er schläft im Wagen. Auch den Nuckel habe ich schon im Krankenhaus eingeführt, etwas, was ich mir auch vorher nur schwer vorstellen konnte. Als mich bei Tonis Geburt die Kinderärztin am dritten Tag fragte, ob Toni einen Nuckel nehmen würde, war ich total verwirrt davon, dass so ein kleines Baby einen Nuckel nehmen sollte, aber jetzt weiß ich warum. Als Mutter von mehreren Kindern gewinnt man mit dem Nuckel Zeit. Etwas, was man ganz dringend braucht, als Mutter von #twoundertwo.
Und so stelle ich wieder fest, dass alles anders ist als gedacht, einiges planbar, vieles überraschend. Es führt eines zum anderen, vieles können wir aus Erlebtem lernen, aber offen zu bleiben für das Neue, das ist das Entscheidende. Und so lehne ich mich zurück in Liegeposition und freue mich auf alles was kommt.
PS: Eine wunderschöne Sache trug sich noch zu, mein Text Tonis Geschichte wurde online auf Vogue.de veröffentlicht und ich bekam so viele positive Nachrichten, die mich in den ersten Tagen vom Wochenbett natürlich auch in einer sehr emotionalen Verfassung erwischten und für einige Freudentränen sorgten. Danke dafür <3

Toll, es ist auch mein Ziel, Texte so zu schreiben, dass sie, auch wenn sie thematisch scheinbar erstmal nicht zutreffen, einen Wert für jede:n Leser:in bilden können. Freut mich sehr, dass es bei dir geklappt hat! ❤️
Eigentlich wollte ich deinen Newsletter aus Zeitgründen gerade (sorry) löschen. Meine Töchter sind gerade 18 geworden und mitten im Abi. Thematisch ist dein Text also meilenweit entfernt von meiner Situation. Ich habe dann aber doch angefangen zu lesen. Bis zum letzten Punkt. Danke, Thekla, dass du deine Gedanken in deinen wunderbaren Texten teilst.