Die Geschichte von Toni
Noch in der Schwangerschaft erfuhren wir, dass sie mit 47 statt 46 Chromosomen zur Welt kommen wird. Es war so surreal, das Strampeln in meinem Bauch, diese Nachricht, diese kleine Person...
Fotocredit: Sabine Lewandowski für #LassMalWirSein
Toni ist mein zweites Kind. Acht Jahre nach der Geburt meines ersten Sohnes bin ich in einer neuen Beziehung, in einer neuen Stadt, vielleicht sogar ein wenig in einem neuen Leben. Auf jeden Fall aber voller Euphorie, als auf die Andeutungen wachsender Brüste und latenter Übelkeit ein positiver Schwangerschaftstest folgt.
Es wird ein Sommerkind, so wie wir es uns gewünscht hatten. Auf pränatale Untersuchungen verzichteten wir, aber Anfang März, bei einer Regeluntersuchung bemerkte mein Frauenarzt, die Fruchtwassermenge erschiene ihm sehr hoch, er würde diese gerne in zwei Wochen noch einmal kontrollieren. Gewissenhaft wie ich bin, nahm ich den Folgetermin wahr, ohne selbst wirklich besorgt zu sein. Ich tänzelte zum Arzt, wusste ich doch, dass eine Kontrolle auch einen Blick auf meine Tochter bedeuten würde, die bereits fröhlich in meinem Bauch ihre Purzelbäume schlug. Ich lag auf der Liege, erzählte fröhlich von den Kindsbewegungen und beobachtete meinen Arzt, dessen Stirn sich in Falten legte, während er mit dem Ultraschallkopf suchend über meinen Bauch fuhr. Die Fruchtwassermenge sei deutlich erhöht und auch in ihrem Köpfchen seien die Ventrikel erweitert, zu viel Flüssigkeit im Gehirn. Ich wische mir das Gel mit einem Tuch vom Bauch, knöpfe meine Bluse zu und folge ihm zurück zum Tisch.
Er würde jetzt in der Feindiagnostik anrufen, die Befunde müssten dringend von Spezialisten überprüft werden.
Es klingelt, ich höre eine Frauenstimme, er bittet um einen unmittelbaren Termin, fragt mich nach meiner Telefonnummer, ich gebe sie ihm Ziffer für Ziffer, er gibt sie weiter, die Frauenstimme sagt, sie rufe gleich zurück. Ich habe es nicht weit nach Hause, stolpere über die Straßen, durch den Hausflur bis nach oben in unsere Wohnung, mein Freund ist zu Hause, er fragt, ob alles in Ordnung sei, ich sage, nichts ist in Ordnung. Wenig später klingelt mein Telefon, die Frauenstimme sagt, ich könne kommen, etwas Wartezeit einplanen, aber dann würde der Arzt mich untersuchen. Immer noch gelten die vielen Einschränkungen der Pandemie und so warte ich alleine ohne meinen Freund in dem Krankenhaus, wo der Feindiagnostiker sitzt. Ich unterschreibe unzählige Zettel, die ich beschließe nicht zu lesen, denn alleine vom Überfliegen wird mir schwindelig. Wieder auf der Liege knöpfe ich meine Bluse auf und spüre das kalte Gel und den Schallkopf auf meinen Bauch. Er würde erstmal schauen und messen und erst danach erklären, sagt der Arzt. Ich beruhige mich mit dem Anblick meiner kleinen Tochter, in der 18. Schwangerschaftswoche hat sie eine Größe von etwa 13 Zentimetern. Nach fast einer Stunde bestätigte der Feindiagnostiker die Befunde meines Frauenarztes, die erweiterten Ventrikel, die erhöhte Fruchtwassermenge und auch noch Kalk am Herzen. Um genauere Diagnosen zu stellen, müsse er eine Fruchtwasseruntersuchung vornehmen.
Der Schmerz von dieser dünnen Hohlnadel, die durch meine Bauchdecke hindurch in die Fruchtblase gestochen wird, ist dumpf und stark, fast existenziell - als würde mein Körper spüren, wie gefährlich diese Untersuchung ist. Eine Schwester ist dabei und stellt über den Ultraschall sicher, dass die Nadel nicht meine Tochter trifft, sondern nur das Fruchtwasser um sie herum. Die im Fruchtwasser schwimmenden kindlichen Zellen würden nun im Labor untersucht, uns wird eine Broschüre über das Leben mit einem Kind mit Behinderung mitgegeben.
Mein Freund wartet vor dem Krankenhaus und ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.
Ich war ewige Stunden in diesem Krankenhaus und trotzdem ist es doch noch nicht lange her, dass eben noch alles gut war? Über das Wochenende legt sich etwas Ruhe über die wilden Gedanken, ich lese ein paar Artikel im Internet, lasse dann aber davon ab, weil alles doch so unklar ist. Bis ich am Montagmorgen meine Instagram-App öffne und Posts zum Welt-Down-Syndrom Tag sehe, der seit 2006 jedes Jahr am 21. März stattfindet, und mir alles klar wird.
Meine Tochter hat das Down-Syndrom.
Es dauert noch bis 18 Uhr, bis der Feindiagnostiker anruft und mir selbiges als Ergebnis der Fruchtwasserpunktion berichtet. Meine Tochter ist erst wenige Wochen alt und sie hat schon ein Gefühl für Timing und einen guten Auftritt. An welchem Tag sonst würde sie der Welt verkünden, dass sie mit 47 statt 46 Chromosomen zu uns kommen wird? Es war so surreal, dass Strampeln in meinem Bauch, diese Botschaft, diese kleine Person, die da was mitbringen würde auf die Welt, von dem ich nur Bruchteile erahnen konnte. Wir sprachen dann noch weiter über die erweiterten Ventrikel, denn diese seien hinderlich für eine gute Entwicklung des Gehirns, es würde verdrängt, es könnte irreversible Schäden hervorrufen, auch die erhöhte Fruchtwassermenge sei nicht gut, der Kalk am Herzen höchstwahrscheinlich aber unbedenklich. Der Feindiagnostiker schlägt eine weitere Untersuchung in wenigen Wochen vor, um zu sehen, wie sich unsere Tochter entwickeln würde. Er klärt mich auch darüber auf, dass ich die Schwangerschaft, trotz des weit fortgeschrittenen Stadiums, mit dieser Diagnose noch beenden kann. Aber sie ist doch schon da! Sie bewegt sich doch! Ich lerne, dass ein Spätabbruch bei der Diagnose Down-Syndrom quasi bis zur natürlichen Geburt möglich ist. Zum Schutz der Psyche der Eltern.
In meinem Bauch wächst jetzt ein kleines Mädchen, das lebendig und fröhlich vor sich hin schwimmt, von dem mir aber gerade niemand sagen kann, wie es ihr außerhalb meines Bauches gehen wird. Ich bin mir sicher, ich würde sie behalten, sie ist doch eigentlich schon da. Mein Freund ist an meiner Seite, er ist noch überraschter als ich, ihm fehlt natürlich die Untersuchung, der Bezug, aber er macht es toll, bleibt im Vertrauen. Ich durchforste Blogs im Internet, allesamt frustrierend, denn überall steht nur geschrieben, was sie nicht oder erst spät lernen wird, wie sie aussehen wird, welche Merkmale sie von Menschen mit 46 Chromosomen unterscheiden wird. Irgendwann, mitten in der Nacht, finde ich einen Satz, der mich mitten ins Herz trifft: In erster Linie ist es dein Kind. Ich werde ruhiger.
Ich stelle mir Fragen, ob ihr Leben ein Leben ist, das sie leben will?
Der Volksmund würde sagen: ein lebenswertes Leben; Selbstständigkeit, Karriere, Familie? Wird das für sie möglich sein? Es dauert einige Nächte bis ich merke, wie übergriffig ich mich verhalte, welch’ Anmaßung, Prognosen über das Glück in ihrem eigenen Leben treffen zu wollen: Es ist doch ihr Leben! Und sie wird mit ihrem Leben und dem, was es ihr gibt, immer die Möglichkeit haben, glücklich zu sein! Denn sind es nicht nur wir, die mit 46 Chromosomen, die sich als das Maß aller Dinge betrachten und unsere Ansprüche als universal ansehen und allgegenwärtig erfüllt haben wollen?
Das zweite Gedankenkarussell, in dem ich mich immer wieder verliere, ist die Flüssigkeit im Köpfchen. Wie stark wird ihre Behinderung sein? Wird sich ihr Gehirn überhaupt entwickeln können? Gedanken, die ich mir nicht gemacht habe, als ich noch davon ausging, dass sie nur 46 Chromosomen mitbringen wird. Da tänzelte ich selbst nach dem Verdacht meines Arztes noch optimistisch durch die Gegend. Warum dreht sich das jetzt - und gehe ich vom Schlimmsten aus?
Ich schloss die Augen und hielt das Karussell an.
Ab jetzt hören wir nur noch Tina Turner und versuchen vom Besten auszugehen. Es wird ihr gut gehen. Sie ist stark, sie macht das schon. Einige Wochen später sind wir in Berlin bei einem weiteren Feindiagnostiker, dessen Geräte noch sensibler die Entwicklung der einzelnen Organe zeigen können. Ich teile meine Gedanken mit ihm und er sagt, ja, genau so, und selbst wenn sie Wasser im Kopf hat oder eine Herz-OP braucht, wird sie das schaffen und Ärzt:innen werden ihr dabei helfen. Sein Optimismus bestärkt mich weiterhin und wir beschließen im Juli, einige Wochen vor dem errechneten Geburtstermin, noch einmal zu ihm zu gehen, um zu sehen, ob für eine natürliche Geburt alles in Ordnung ist.
Fotocredit: Sabine Lewandowski für #LassMalWirSein
Es ist Hochsommer, noch vier Wochen bis zum errechneten Termin, mein Freund und ich sind jetzt verheiratet und wir genießen zwei Wochen Flitterwochen alleine in unserem Ferienhaus, bevor die Schule wieder losgeht und Toni zur Welt kommt. An einem Montag Ende Juli fahren wir nach Berlin zur letzten feindiagnostischen Untersuchung vor dem Geburtstermin. Ich hatte mittlerweile beschlossen, Toni in Stralsund zur Welt zu bringen, da ein Termin in der Schwangerenberatung in der Klinik in Rostock in einem Heulkrampf meinerseits ob des komplett empathielosen Arztes endete. Überhaupt war es leider so, dass die beiden Feindiagnostiker die uns begleiteten, meine Frauenarztpraxis und Hebamme unsere einzigen Beispiele für positive Beratung waren - an vielen anderen Stellen begegnete uns eher Mitleid und Ablehnung, als hätten wir eben einfach richtig Pech gehabt.
Meinen Löwenmutterherz hat sich davon verunsichern, aber nicht unterkriegen lassen.
Und so lag ich bei fast dreißig Grad an der Friedrichstraße wieder auf der Liege und unser Feindiagnostiker ließ es sich nicht nehmen, über Tonis kleine Speckröllchen zu witzeln, sie war prächtig entwickelt und einer natürlichen Geburt stand nichts im Weg. Auch die Ventrikel waren nur noch leicht vergrößert, der Kalkfleck am Herzen nicht gewachsen und die Fruchtwassermenge okay.
Wir wollten zurück auf die Insel, wurden aber durch einen umgestürzten Baum in der Oberleitung aufgehalten, der den komplette Zugverkehr lahmlegte und so standen wir spätabends in Anklam und hofften, dass die einzige Taxifahrerin die wir erreichten wirklich kommen und uns abholen würde. Beruhigt durch die positiven Nachrichten warteten wir, bis sie kam, ihren Sohn auf dem Beifahrersitz, sie könne die beiden Jungs nicht mehr zusammen zu Hause lassen, die würden sich die Köpfe einschlagen, erzählte sie, während sie uns vorbei an fahrbahnkreuzenden Wildtieren bis nach Stralsund brachte, wo wir müde aber glücklich in ein Hotel für die Nacht eincheckten. Dienstagmorgen konnten wir zurück auf die Insel, nichts ahnend, dass wir Donnerstagnacht in einer ähnlich wilden Aktion wieder zurück nach Stralsund kehren würden, weil Toni sich dreieinhalb Wochen zu früh auf den Weg auf unsere Welt machen würde.
Selbst in der Nacht konnte ich es nicht glauben, zählte Wehen und Sekunden, versuchte immer wieder einzuschlafen, bis wir um halb drei doch den Notarzt riefen, der uns mit zum Hafen im Nachbarort und dann mit seinem Boot übers Wasser brachte. Ich schrie meine Wehenschmerzen über den ganzen Bodden. Die Wellen unter dem kleinen Boot auszubalancieren half den Schmerz wegzuatmen. Angekommen am Hafen lehnte ich mich ans Geländer, bis der RTW kam. Wieder einmal durfte aufgrund der Corona-Maßnahmen mein Mann nicht bei mir sein und ich fuhr alleine mit den Rettungssanitätern fast eine Stunde bis zum Krankenhaus. Im Haus hatte ich bei der Abfahrt noch schnell ein dunkelgrünes Handtuch gegriffen, in das ich jetzt abwechselnd reinbiss, reinschrie, reinheulte.
Selig erblickte Toni das Licht der Welt, mit der sie schon so lange aus dem Bauch heraus kommunizierte.
Ich war überglücklich, kurz darauf kam auch mein Mann und staunte, dass sie schon da war (die Geschichte, wie er sich nachts alleine vom Hafen zum Krankenhaus durchschlug, ist so herrlich, die muss er euch bei Gelegenheit persönlich erzählen).
Sie war noch winzig klein und müde, in den nächsten drei Wochen bis zu ihrem errechneten Geburtstermin Ende August wird Toni fast nur schlafen. Wir fahren zurück auf die Insel, bauen uns ein Zelt am Strand und genießen die ersten Wochen mit ihr.
Ihre Diagnose ist egal, wir erzählen sie nicht mal allen Menschen, denen wir begegnen, denn wir wollen sie erst einmal kennenlernen, unsere kleine Toni.
Es rührt mich zu Tränen!
Es ist (d)ein Kind und es hat genau so ein Leben wie jedes andere Kind auf dieser Welt auch. Und ich glaube, nur als Mutter weiß man, was es bedeutet ein Kind in sich bewegen zu fühlen. Das kann man doch nicht einfach auslöschen, schon gar nicht aus der Erinnerung!
Ich wünsche euch viel Kraft, Freude und Spaß am Leben! Mittlerweile muss die Maus ja schon drei Jahre alt sein. Da habt ihr sicherlich so einige Geschichten zu erzählen.
Finde ich unglaublich stark, dass ihr diesen Weg gegangen seid. Ich weiß, dass mir selbst das sehr, sehr schwer gefallen wäre, auch wenn ich diesen Weg grundsätzlich erst einmal für den richtigen halte (wobei das natürlich immer auch von vielen persönlichen Faktoren abhängt). Durch diese Möglichkeiten der Feindiagnostik und einer späten Abtreibung wird man ja bis zum Schluss vor eine Wahl gestellt. Und die meisten Menschen lassen sich letztlich wahrscheinlich zu sehr von ihrer Angst leiten.
Ich freue mich für euch und hoffe, dass ihr seither und in Zukunft viele tolle gemeinsame Erlebnisse miteinander teilen könnt.