Das Wetter ist sowohl ein beliebtes als auch verhasstes Smalltalk-Thema. Für die einen ist es anschlussfähig und ungefährlich, für die anderen höchst sensibel und persönlich. Das Wetter hat einen direkten Einfluss auf unser Leben, unseren Alltag, unser Seelenheil. Es bestimmt, wie wir uns bewegen oder uns kleiden, so outen sich viele Fashionistas als Herbstliebhaber:innen, modisch bringt er die größere Freude, am Herbst ist einfach mehr dran. Die anderen sind wehmütig ob der verlorenen Leichtigkeit des Sommers, seiner Kleider und Gedankenlosigkeit.
"Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren lass die Winde los."Rainer Maria Rilke, Herbsttag
Für mich endete dieser Sommer abrupt, mit einer Verbrennung an meinem rechten Bein, ein Ende mit Schrecken, statt ein Sommer ohne Ende - obwohl er mir tatsächlich unendlich lang vor kam, ob der vielen Dinge die passierten.
Der Sommer war sehr groß.
Er begann damit, dass ich im sonnigen Mai Leander zur Welt brachte. Dem Wochenbett folgte unser Umzug auf die Insel Hiddensee, wir bezogen ein Sommerhaus, das wir jetzt winterfest machen. Das bringt so unsexy Themen wie Dämmung und Wärmepepumpen zu Tage, aber auch Kinderträume wie Fußbodenheizung, von der ich niemals dachte, sie einmal an den eigenen Füßen zu spüren (es dauert wohl noch ein paar Wochen bis es soweit ist).
Der Herbstwind, den Rilke in seinem Gedicht Herbsttag beschreibt, ist Teil unseres neuen Lebens auf der Insel und ein Erklärungsansatz dafür, warum wir uns das Wetter und die Jahreszeiten so zu Herzen nehmen: Während die wärmende Sonne im Sommer den Wind und den Regen erträglich, gar schön macht, sind wir den Launen des Wetters im Herbst ausgeliefert. Das kann entlastend, weil entschleunigend sein, aber auch Ohnmacht mit sich bringen. Wenn die Sonne am Himmel steht, dann immer mit dem Versprechen, dass sie uns hilft durch den Tag und seine (Wetter-)Hindernisse zu kommen.
Ohne Sonne sind wir auf uns allein gestellt.
Die Sonne steht uns bei, sie wärmt uns, schenkt uns Freiheit und Kraft, denn sie verantwortet die Produktion von Vitamin D, das unser Immunsystem stärkt und die Stimmung aufhellt, sowie Melatonin und Serotonin, die unseren Schlaf-Wach-Rhythmus beeinflussen. Ohne Sonne sehen wir alt aus, sind müde, unmotiviert, empfindsam. Schlagen wir morgens unsere Augen auf und sehen nichts als grauen Himmel, dann ist für viele von uns schon klar: Das wird heute nichts.
Und so bleibt die Frage, ob Wetter ein oberflächliches Gesprächsthema ist streitbar. Denn die eigenen Vorlieben, sagen wir mal der Jahreszeiten, sind nicht oberflächlich, sondern höchst persönlich, gar intim.
Im Herbst obliegt das Leben hier auf der Insel der Westwindlage, der fachgemäßen Bezeichnung für eine durch Westwind beeinflusste Großwetterlage, mit Tiefdruckgebieten die vom Atlantik nach Europa ziehen und wechselhaftem, feuchtem Wetter. Wechselhaft bedeutet aber auch, dass der Wind stets die Wolken vertreibt, die Sonne durchkommt und es uns nach draußen zieht.
Ein Leben, das der Sonne und dem Wind folgt.
Gesellschaftlich gibt es ebenfalls Großwetterlagen, so umtreiben uns der Populismus und der Klimawandel als politische Großthemen. In vielen Teilen der Welt hat sich die politische Großwetterlage durch den Aufstieg populistischer Bewegungen, Nationalismus und die Abkehr von internationalen Institutionen verändert, wie der Aufstieg der AfD in Deutschland, zuletzt bestätigt bei den Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen, zeigt. Dem gegenüber steht der Klimawandel, der die politische Großwetterlage in vielen Ländern beeinflusst und Debatten über Umweltpolitik, Energiewende und soziale Gerechtigkeit im Kontext ökologischer Herausforderungen anstößt. Das Wetter ist also höchst politisch. Der Unterschied zwischen Wetter und Klima liegt in der zeitlichen Dimension und dem räumlichen Maßstab der betrachteten Phänomene. So ist Hitze ein Indikator für fehlenden Klimaschutz und ein Ich liebe es, wenn’s heiß ist kann in den falschen Kreisen schon mal missverstanden werden.
Das Wetter an sich ist ein natürliches Phänomen, es ist zufällig und wirkt zunächst für alle gleich, es diskriminiert niemanden. Und doch löst es Scham aus: Heizkosten, neue Winterkleidung oder Möglichkeiten der Mobilität werden zu sensiblen Themen. Im Winter mit einer Flugreise die Sonne zu suchen wirkt schnell klassistisch, bringt es doch soziale und finanzielle Privilegien zur Geltung, die nicht allen Menschen zugänglich sind. Ist es nicht eh klassistisch, sich über das Wetter Gedanken zu machen, hat man denn sonst keine ernsthaften Probleme? Das mit dem Wetter, das ist schon heikel.
Auch mit unserem Umzug auf die Insel offenbaren sich die jahreszeitenbezogenen Unsicherheiten einiger Menschen in der Prophezeiung, der Inselwinter würde sehr hart für uns werden. Weil es doch arg unhöflich ist, die Lebensentscheidungen anderer negativ zu kommentieren, ist die einzige Erklärung, die ich dafür finden kann, sich offenbarende Angst. Wohlmöglich scheucht sie die eigene FOMO, die Angst etwas zu verpassen, treibt sie die Vermeidung oder vielleicht ist es auch nur unsere persönliche Hybris, die darauf antwortet, dass wir uns davor nicht fürchten, sondern uns freuen, auf gemütliche Stunden im Haus nach dem aufregendem Sommer mit unzähligen, langen Gesprächen mit Freund:innen, die zu Besuch kamen, Kinderscharen die ums Haus rannten, im Meer tobten und Berge Armer Ritter vertilgten. Aber wer weiß das schon? Vielleicht stolpern wir über unsere eigenen Füße, fühlen uns von unserer neu eingezogenen Decke erdrückt und lechzen nach den ersten Frühlingstagen - wir werden es erleben.
Und so kann das Wetter viel mehr sein, als nur ein oberflächlicher Smalltalk, sondern der Beginn eines spannenden Gesprächs über Sorgen, Ängste und Vorlieben oder einfach das Leben, Politik und Mode: Und du, lieber Sommer oder lieber Herbst?
Everywhere you go, always take the weather with you
Everywhere you go, always take the weather
Everywhere you go, always take the weather with you
Everywhere you go, always take the weather, the weather with youCrowded House, Weather with you
PS: Das Inselleben zwischen Wind und Sonne hat Miuccia Prada in ihrer neuen Kollektion für Miu Miu modisch hervorragend interpretiert: Lagen, Lagen, Lagen - ein Look, den wir mühelos in unserem eigenen Kleiderschrank nachstylen können.