Plädoyer für mehr Abhängen
Mit Anfang 20 war meine Wohnung ein Drop-in-Apartment zum gemeinsamen Abhängen mit Bio-Wein, American Spirits und Eiscreme - doch dann wurden wir erwachsen.
Mit Anfang 20 zog ich übergangsweise in eine kleine Wohnung am Brüssler Platz in Köln, direkt hinter der Kirche, in das Haus mit der blauen Röhrenbeleuchtung. Viele meine Nachbar:innen hatten ein Problem mit Ruhestörungen, da der Platz ein beliebter Treffpunkt der fröhlichen Feiermeute, vor-, nach und während der Parties war, die in den umliegenden Clubs stattfanden.
Wann immer es das Wetter zuließ, tranken wir den Bio-Weißwein aus dem Aldi, rauchten grüne American Spirits Zigaretten aus dem Softpack und saßen draußen auf dem Brüssler Platz. Regnete es, zogen wir hinauf in meine Wohnung, die knapp dreißig Quadratmeter hatte, aber häufig eine höhere Anzahl Menschen als diese beherbergte. Zwischen Nähmaschine, Stoffresten und Schnittmustern saßen meine Freund:innen auf dem Sofa, Fußboden oder in der Badewanne, wo die gestapelten Sofakissen lagen. Meine Wohnung war ein Drop-in-Apartment, eine Auffangstation für verlorene Seelen auf dem Nachhauseweg, liebeskummergeplagte Freund:innen, die spontan klingelten und mir beim Nähen zusahen oder auch einfach vor oder nach der Arbeit mit Wein vorbeikamen, um die viele freie Zeit zu teilen, die wir damals noch hatten. Wir schauten Friends, teilten Eis direkt aus der Packung, hingen einfach zusammen ab. Es kamen immer wieder neue Menschen dazu, jede:r brachte mal jemanden mit, ein bunt gemischter Haufen. Wir waren sehr glücklich. Irgendwann musste ich die Wohnung an ihren rechtmäßigen Besitzer zurückgeben und zog in die Severinstraße um, wo wir nahtlos anknüpften.
Von da aus ging es für mich nach Hamburg um Erwachsen zu werden. Ich studierte, bekam meine erste Festanstellung in einem Änderungsatelier, gründete ein Unternehmen und wurde zum ersten Mal Mutter. Was und wie viel ich davon mit meinen Freund:innen teilte war immer anders, fest steht aber, je mehr, desto glücklicher war ich. Eine Erkenntnis hatte ich auch damals schon: Ging die Zeit für Freund:innen durch Berufliches oder Privates kurzfristig flöten, tat das zunächst wenig weh, aber langfristig wurde mir schmerzhaft klar: irgendetwas fehlt.
Wir Menschen haben das Bedürfnis zugehörig zu sein, Kohärenz, sprich Zusammenhalt, zu erfahren. Wir können eine Weile ohne leben, aber irgendwann breitet sich doch ein Gefühl der Vereinzelung aus, Einsamkeit schleicht sich ein. Gesamtgesellschaftlich haben die letzten Jahrzehnte Neoliberalismus und der Megatrend Individualisierung das Erleben von Gemeinschaft und Zusammenhalt geschwächt. Das Bedürfnis produktiv zu sein, etwas aus sich zu machen, verdrängt die lässige Zeit auf dem Fußboden oder in der Badewanne. Freiwillig lösen wir soziale Bindungen auf und ersetzen sie durch Selbstoptimierung, persönlich, beruflich und politisch.
Wir lösen soziale Bindungen auf und ersetzen sie durch Selbstoptimierung.
Während lange Zeit unsere Umwelt, allen voran soziale Beziehungen unsere Einstellung zu politischen Entscheidungen und sozialen Problemen prägten, gestaltet sich unser politisches Verhalten heute personalisierter, mit gefährlichem Halbwissen und unverbindlicher. Kurzfristige Heuristiken, sogenannte Daumenregeln, prägen unser Entscheidungsverhalten und wir stellen damit verbundene Nutzenrechnungen an. Mit geschwächter Parteibindung wird gegen die empfundene Unzufriedenheit angewählt, situativ und emotional. Dass dies zu politischen Entscheidungen führt, die Minderheiten in Gefahr bringt und eine homogene Mehrheitsgesellschaft fördern ist daher kein Wunder, sondern fast logische, unglückliche Konsequenz. Wir wählen das, was uns voranbringt und weniger solidarisch oder gesellschaftlich zukunftsorientiert. Wie auch, wenn wir von früh auf lernen, uns auf uns selbst zu verlassen, unser eigenes Schicksal zu formen sowie fleißig und strebsam unseren Erfolg zu schmieden?
Hinzu kommt, dass soziale Beziehungen keine No-Brainer sind, sondern eine große Herausforderung. Als ständiger Aushandlungsprozess erfordern sie viel Fingerspitzengefühl und Zuwendung. Ich persönlich habe in den letzten Jahren festgestellt, dass die vielen sozialen Beziehungen die ich als junge Frau dachte leicht zu pflegen, mich sehr viel Kraft kosteten, etwas was ich eben oft mit Bio-Weißwein und American Spirits oder Eiscreme kompensierte. Eine Erklärung dafür fand ich in der Hochsensibilität (mehr dazu hier). So glücklich es mich machte und Energie schenkte, so viel Kraft kostete es mich auch mit vielen Menschen zusammen zu sein. Es erscheint mir also nicht verwunderlich, dass viele Menschen zunächst darauf verzichten. Trotzdem oder gerade deswegen möchte ich ein Plädoyer für mehr Abhängen aussprechen! Gemeinschaft macht glücklich und zwar immer dann, wenn sie um ihrer selbst Willen geschieht. Abhängen verbindet, produktiv sein entzweit. Aber warum fällt uns das so schwer?
Abhängen verbindet, produktiv sein entzweit.
Als Eltern von Kleinkindern finden wir uns heute auf dem Fußboden wieder, zwischen Duplo-Tieren, Kinderbüchern und Puzzleteilen. Aber jetzt ist es anders. Uns fällt es schwerer, die Zeit sein zu lassen, sie nicht mit produktiven Dingen zu füllen, keine innere Unruhe zu verspüren. Und richtiges Abhängen ist es eben auch nicht, dafür rotieren die Gedanken zu sehr um offene To-Dos, Termine, Vergessenes und Verpasstes.
Ich bin überzeugt, unsere Welt wäre eine bessere und sicherer für alle, wenn wir wieder mehr miteinander abhängen würden. In losen Verabredungen, ohne viel Tam-Tam, entspannt aber verbindlich. Statt aufwändig eingefädelter Dates, die kurz vor knapp dann doch abgesagt werden, weil sie zu viel Energie kosten und im streng-getakteten-Alltag als Overachiever:in dann eben doch nicht reinpassen, gemeinsame Zeit, die nicht einem exakten Plan folgt, großer Vorbereitung bedarf oder ein schlichtes Austauschen von jüngsten Erfolgserlebnissen dient. Kämen wir öfter locker zusammen, ganz nebenbei, in spontanen und bunt gemischten Konstellationen, würden wir uns über persönliche Herausforderungen oder politische Fragen austauschen, voneinander lernen statt mit gefährlichem Halbwissen Entscheidungen zu treffen. Was wir brauchen sind mehr Drop-In-Places, Orte zum Zusammenkommen und unvermittelt Zeit verbringen. Ein simples, unaufgeregtes, ausgedehntes Beisammensein, bei dem wir unsere Gliedmaßen ausstrecken, auch mal die Augen schließen und gemeinsam den Moment genießen.
Oh, das klingt wirklich tolll! Die Herausforderung für Erwachsene (oder für mich?) ist, das Abhängen wieder zu lernen … Wobei ich dabei in den letzten Monaten Fortschritte gemacht habe :)